Fragen zur Einigung Europas

Den Abschluss des „III. Otto von Habsburg Symposions“ bildete ein Interview mit Karl von Habsburg. Geführt wurde das Interview von den zwei jungen Paneuropäern.

 

 

 

 

Die Namen der beiden Interviewer sowie auch des Interviewten werden bei der ersten Frage bzw. ersten Antwort ausgeschrieben, in weiterer Folgen dann mit den Initialen abgekürzt: ICvO für Isabelle-Constance von Opalinski, PJ für Philipp Jauernik und KvH für Karl von Habsburg.

Philipp Jauernik: Die Vorgänge in der Ukraine werfen Fragen nach der europäischen Außenpolitik, der europäischen Diplomatie, auf. In dem Zusammenhang muss man die großen sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Europäische Union der nächsten Jahre, Jahrzehnte diskutieren. Man hat in der Ukraine ein Versagen der europäischen Diplomatie bemerken können. Dazu existiert die These, dass eine europäische Diplomatie ohne eine europäische Armee nicht stark sein kann. So lange ich Putin nicht sagen kann, ich marschiere auch ein, wenn Du einmarschierst, wird er nicht auf mich hören. Ist das eine Option? Können wir so in die Zukunft gehen?

Karl von Habsburg: Das ist so eine Frage, wo ich fürchterlich lange darauf antworten müsste. Aber ich werde versuchen, mich auf ein paar Punkte zu konzentrieren, die mir sehr wichtig erscheinen. Du hast zum einen die europäische Außenpolitik und die Auswirkung der europäischen Außenpolitik auf die Ukraine angesprochen. Ich habe keine politische Funktion, kann also ganz offen formulieren. Da muss man schon folgendes feststellen: die europäische Außenpolitik ist zunächst einmal ein Work in Progress. Wir sind auf einer Baustelle. Wir haben erst seit ein paar Jahren einen Außensprecher, einen Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik bzw. eine Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, oder das was immer wieder angesprochen wurde als die Telefonnummer Europas. Da hat sich eben nach den vorigen Europawahlen (gemeint ist die Europawahl 2009, Anmerkung), nach der Neukonstituierung der Kommission, eine Situation ergeben, dass die europäische Diplomatie eine außenpolitische Sprecherin bekommen hat, Catherine Ashton, die qualitätsmäßig doch um einiges hinter der Qualität der europäischen Diplomatie zurückgeblieben ist. Ich habe sie in verschiedenen Ländern erleben dürfen. Sie war sehr engagiert in Libyen zum Beispiel, und ich war leider Gottes immer wieder recht erstaunt darüber, wie es möglich ist, durch Besuche bei falschen Personen falsche Personen zu legitimieren. Das ist leider Gottes ein Bereich, wo ich meine, dass die Außenpolitik immer wieder schiefgegangen ist. Wobei ich das aber nicht auf die gesamte europäische Diplomatie ausweiten möchte. Ich glaube zum Beispiel, dass der Vertreter der Europäischen Union in Kiew, ein polnischer Botschafter, absolut ausgezeichnet ist, dass er während der vergangenen Monate hervorragend wirken konnte. Viele Beteiligte sagen, dass es ohne seine Hintergrundaktivitäten möglicherweise noch mit wesentlich mehr Gewalt abgelaufen wäre, und dass die Diplomatie gar nicht so schlecht ist. Ich erwähne, in unserem Kreis darf man das auch erwähnen, dass es sich dabei um einen alten Paneuropäer handelt. Also ich glaube, dass die Diplomatie an sich gar nicht schlecht ist, aber etwas ist, das als europäische Diplomatie noch in den Kinderschuhen steckt. Sie beginnt erst sich aufzubereiten und langsam an Effizienz zu gewinnen. Die Krise in der Ukraine ist sicherlich eine der schwierigsten Krisen, mit denen Europa seit sehr sehr langer Zeit, wenn nicht überhaupt seit dem Zweiten Weltkrieg, zu kämpfen hat. Ich muss ehrlich sagen, dass ich schon relativ lang in dem Bereich tätig bin und mir diese Art Außenpolitik sehr genau anschaue. Seit dem Zweiten Weltkrieg scheint mir – nach der Kubakrise, die sicherlich noch wesentlich problematischer war – die momentane Krise in der Ukraine die größte Sicherheitskrise zu sein, die wir uns derzeit überhaupt vorstellen können. Wie kann jetzt – wir haben vorher einen wirklich ausgezeichneten Vortrag zur Ukraine, über die Rolle der ganzen Nicht-Regierungsorganisationen, die Unterstützung von anderen Staaten die es dort gegeben hat, gehört –, oder wie hätte jetzt Europa besser auftreten können? Aber wie gesagt, da hat uns vielleicht in einigen Bereichen der politische Wille und die Mittel gefehlt. Das hat auch dazu geführt, dass viele Leute hier die roserne Brille aufsetzen, wenn sie sich anschauen was in Russland passiert. Da muss man einfach realistisch die Geschichte mit anschauen um zu wissen, wozu so ein Konflikt tatsächlich führen kann. Man kann die Geschichte nicht einfach ausblenden dabei. Ich hatte vor einem Jahr in einer geschlossenen Gesellschaft eine ungemein interessante Diskussion mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister von Russland. Da habe ich ihm die Frage gestellt, wie es in Russland mit dem Prinzip des Nahen Auslandes, das ja in der Sowjetunion geherrscht hat, ausschaut. In diesem Prinzip geht es darum, die Nachbarstaaten mit allen Mitteln militärisch, wirtschaftlich und politisch zu dominieren und zu kontrollieren. Das war das Prinzip des Nahen Auslandes. Er hat mir völlig offen gesagt: Natürlich ist es ein Prinzip, das heute genauso gilt, wie damals, wenn man die Möglichkeit dazu sieht. Momentan sieht Russland offensichtlich diese Möglichkeit, die Ukraine in einem Masse, wie es eben damals im Rahmen des Warschauer Pakts stattgefunden hat, zu kontrollieren. Also versucht natürlich Russland diese Macht auszuüben. Wenn da der Westen nicht klar auftritt und sagt: Moment, ich glaube, wir sollten eigentlich alle nach den gleichen Spielregeln spielen. Wir sprechen von freiheitlich demokratischen Grundordnungen, wir sprechen von Wahlen und Grundprinzipien, wie sie zur Anwendung kommen sollten, und auch für alle gelten sollten. Sonst muss sofort die Rückfrage erlaubt sein: Ja warum hat sich Russland so lange gegen die Anerkennung des Kosovo zur Wehr gesetzt? Nach dem selben Prinzip, nach dem Moskau heute sagt, man müsse die Krim als russisch anerkennen, müsste Russland auch den Kosovo sofort anerkennen. Und gewisse Rückfragen zu den, ich würde einmal sagen kolonialen Teilen Russlands, müsste sich Moskau auch gefallen lassen. Entweder stehen wir für unsere Grundprinzipien ein, dann müssen wir auch in der Ukraine ganz klar da stehen oder wir stehen nicht dafür ein, dann müssen die Karten neu gemischt werden. Ich glaube aber nicht, dass das eine gute Idee wäre.

Isabelle-Constance von Opalinski: Abgesehen von der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, steht Europa nicht noch vor einer ganz anderen Herausforderung: dem demographischen Wandel. Würden Sie in einer gezielten Immigrationspolitik die Lösung für unsere Nachwuchsprobleme sehen? Oder haben Sie vielleicht noch ein anderes „Geheimrezept“?

KvH: Also wenn ich ein Geheimrezept hätte, dann würde ich damit schon wesentlich früher herausgekommen sein und hätte eine hervorragende politische, wirtschaftliche und sonstige Position. Ich habe das Geheimrezept nicht. Ich habe nur das Gefühl, dass ich vielleicht in dem Fall sogar noch mehr Probleme sehe als die meisten anderen Menschen sehen. Es ist am heutigen Tag bei den verschiedenen exzellenten Vorträgen schon vieles zur Sprache gekommen. Z.B. wie schaut unsere Gesellschaft überhaupt aus? Wie schaut der Gesellschaftsausbau aus? Was ist die Grundzelle der Gesellschaft, die Grundzelle des Zusammenlebens, nämlich die Familie, die Frage des Subsidiaritätsprinzips, da ist, glaube ich, schon sehr vieles zur Sprache gekommen. Du hast auch die Immigration angesprochen. Ich traue mir mit Sicherheit zu sagen, dass den meisten unserer Politiker aber auch den Menschen vielfach noch gar nicht klar ist, was hier tatsächlich noch auf uns zukommen wird, dass wir noch nicht einmal ansatzmäßig spüren, was hier tatsächlich passieren kann. Ich habe am Anfang des Jahres einen Vortrag halten dürfen zum 1200. Todestag von Karl dem Großen. Es gibt ja sehr wenig Dokumente aus der Zeit, aber ich habe mir anschauen können mit welchen Auswirkungen aus der Völkerwanderung er sich noch auseinandersetzen hat müssen. Das hat mich bis zu einem gewissen Grad schon ein bisschen an unsere heutige Zeit erinnert. Wir müssen uns damit befassen, welche Konflikte noch zu welchen Völkerwanderungen führen werden. Ich erwähne jetzt nur ein, zwei kleine Beispiele, wo ich das Gefühl habe, wir sind überhaupt nicht darauf vorbereitet. In meiner Tätigkeit mit Blue Shield habe ich in der jüngeren Vergangenheit sehr viel mit Syrien zu tun gehabt. Wenn man sich den Konflikt dort anschaut, dann muss man sagen, ganz egal wie der Konflikt ausgeht – wenn er einmal ausgeht, denn man muss ja auch ganz realistisch sagen, dass alle großen internationalen Kräfte derzeit mit allen Mitteln die ihnen zur Verfügung stehen daran arbeiten, dass der Konflikt nicht aufhört, weil sie sich sicher auch im Hinterkopf sagen, dort schlagen sich momentan die ganzen radikalen Wahnsinnigen gegenseitig die Köpfe ein, und wenn der Konflikt aufhört, dann gehen die alle wo anders hin und fangen das in einem anderen Land an, deswegen sagen die meisten nach außen sie arbeiten an einer Lösung des Konfliktes, aber wenn man sieht was tatsächlich geschieht, ist das nicht die Agenda die dahintersteht – ein Resultat – das muss man realistisch betrachten – ist, dass für die christlichen Minderheiten, deren es sehr viele in Syrien gibt, dort kein Platz mehr ist. Die haben nur wenige Möglichkeiten irgendwohin zu gehen. Das betrifft nicht nur vielleicht zwei Millionen Syrer, das trifft ganz genauso fast acht Millionen christliche Ägypter, das trifft sehr sehr viele andere auch aus der Gegend, von denen viele nach Europa kommen werden. Da müssen wir uns vorbereiten, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten etwas auf uns zukommt, von dem wir momentan nur die Spitze des Eisberges sehen können.

ICvO: Sie haben heute mehrfach den Aspekt der Toleranz erwähnt: Sollten wir Europäer in Hinblick auf unsere Zukunft noch toleranter werden? Besteht da nicht die Gefahr, dass wir unsere christlichen Werte vergessen?

KvH: Also ich würde die Toleranz schon zu den christlichen Werten dazuzählen, muss ich ganz ehrlich sagen. Da müsste man die Toleranz natürlich ein bisschen genauer definieren. Wenn ich jetzt sagen würde tolerant zu sein bedeutet, dass ich denjenigen Menschen, so wie ich es vorher gerade versucht habe anzusprechen, denen es unter den Umständen fürchterlich schlecht geht, helfen muss, dann würde ich sagen, ist die Toleranz zweifellos gegeben. Wenn es darum geht in unserem eigenen Rahmen tolerant zu sein, so wie es im letzten Vortrag durch Sie Herr Professor (Rhonheimer, Anmerkung) angesprochen wurde, dann ist bei uns vielleicht ein bisschen zu viel Toleranz gegeben, das muss man auch ganz ehrlich sagen, vor allem wenn es die staatlichen Strukturen und Ähnliches anbelangt. Aber ich halte Toleranz prinzipiell natürlich für etwas Gutes. Wir müssen schon sehr tolerant sein wenn wir überlegen, wer sind denn heute Europäer. Da müssen wir sagen, Europäer ist derjenige, der sich als Europäer fühlt, der von sich überzeugt ist, dass er Europäer ist. Das kommt auch aus der Betrachtungsweise Europas hervor, ob ich jetzt Europäer bin oder nicht. Vor vielen Jahren gab es einmal eine Bewegung in Marokko die gesagt haben, wir gehören eigentlich zu Europa dazu, weil historisch fängt Afrika erst südlich des Sahel an, das Mittelmeer war immer ein europäisches Binnenmeer und Europa hat sich historisch immer um das Mittelmeer herum abgespielt. Also gehören wir dazu. Damals haben natürlich die europäischen Institutionen gesagt: Naja, nicht ganz, also geografisch ist das nicht ganz nachzuvollziehen und so hat man eine entsprechende Grenze gezogen. Je mehr wir uns hier andere Staaten anschauen umso klarer muss man auch sagen, unsere Spielregeln von Seiten der Europäischen Union sind ganz klar. Wir haben klare Regeln wer in die Europäische Union aufgenommen werden kann, und diese Regeln sind nicht ganz so einfach zu erfüllen. Deswegen teile ich auch nicht die Angst, dass die Union jetzt so schnell ins Unendliche wachsen wird. Dafür sind die Spielregeln viel zu stark und viel zu klar aufgestellt. Aber wenn jemand sich als Europäer fühlt, dann muss man auch die Toleranz haben, dass man ihn auch als Europäer behandelt.

PJ: Im Anschluss an das gerade gesagte kann man wahrscheinlich die Analyse treffen, dass sich Europa in einem Umbruch befindet – aber nicht nur Europa, sondern auch alles was sich rundherum befindet. Wir haben einen sogenannten arabischen Frühling, aber auch einen arabischen Herbst bemerkt. Wir bemerken die Vorgänge in der Ukraine. Wir bemerken aber auch, dass offensichtlich dem so empfundenen alten Europa irgendwo die Antworten fehlen. In Österreich haben wir einen Nationalrat, in dem so viele direkt gewählten Parteien vertreten sind wie nie zuvor in der Zweiten Republik. Wir haben neue Parteien, wie die Neos, die wie Pilze nach oben schießen. Wir haben auch Milliardärs-Parteien, nicht nur in Österreich, sondern auch in der Slowakei. Wir bemerken in den Umfragen im Vereinigten Königreich, dass die UKIP bereits die Konservativen überholt hat. In Frankreich hat der Front National gerade massiv da zugewonnen bei den Gemeinderatswahlen. Und in Italien gibt es eine Fünfsterne-Bewegung eines Clowns. Ist Europa in einer Krise? Ist es eine Krise der Demokratie, eine Krise der Institution oder müssen wir uns einfach auf eine komplett andere Ordnung vorbereiten?

KvH: Natürlich ist Europa in einer Krise. Das ist ganz klar. Und Europa ist nicht etwas, was wir als selbstverständlich hinnehmen können. Man muss immer darum kämpfen, dass gewisse Wertvorstellungen und Strukturen auch erhalten bleiben, wenn wir sie erhalten wollen. Damit befindet sich Europa natürlich immer in einer Krise. Wenn wir fragen: Sind wir in einer Umbruchszeit, ändert sich bei uns momentan alles? Ja, natürlich. Das ist glaube ich etwas was auch historisch ganz natürlich bedingt ist. Was mich so fasziniert ist wieviele historische Jahrestage wir in diesem Jahr begehen. 100 Jahre Anfang des Ersten Weltkrieges, 200 Jahre Wiener Kongress, 1200 Jahre Tod von Karl dem Großen, 25 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs, etc. etc. All diese Jahrestage haben damit zu tun, dass es bei uns riesige Umbrüche gegeben hat, und dass wir auch entsprechend viel daraus lernen konnten. In Amerika spricht man von der „Inevitability of Geography“, also der Unausweichlichkeit der Geografie. Demnach sind gewisse Standards vorgegeben. Im Rahmen dieser Standards gibt es gewisse Änderungen. Das ist ganz klar. Da sind auch Umbrüche vorhanden. Ich möchte ein Beispiel nennen. Für mich war es faszinierend zu sehen, als ich mich mit Karl dem Großen auseinandergesetzt habe, dass das Reich Karls des Großen geografisch das gleiche war, wie die sechs Gründungsländer der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, aus der später die viel größere Europäische Union geworden ist. Da kann man von damals an eine Linie durchziehen, die einfach geografisch bedingt war. Es gab eben ein europäisches Kerngebiet das damals auch ein gewisses Bedrohungsbild gehabt hat. Es gibt gewisse Parameter die sich immer wieder wiederholen, die eben durch die Geographie mit vorgegeben sind, innerhalb der natürlich ganz große Umbrüche stattfinden. Und wenn man von großen Umbrüchen spricht, dann muss man eben auch sehen, dass es in jeder Gesellschaft gewisse Zyklen gibt. Eine interessante Theorie die eben von Gesellschaftszyklen gesprochen hat die wir historisch betrachten können, egal ob es das alte Rom war oder ob es Ägypten war, sagt, dass der Gesellschaftszyklus in drei Teile eingeteilt werden kann. Das klingt jetzt fast humoristisch, weil diese Einteilung von drei Teilen ausgeht, die wir auch im menschlichen Leben kennen. Nämlich Pubertät, Maturität und Senilität. Wenn eine Gesellschaft sich in der Pubertät befindet, dann bedeutet das, dass sie eben typisch pubertäre Ausbrüche hat, dass sie also sagt, alles was für sie im Augenblick wichtig ist, ist das einzige was gilt. Ihre Wertvorstellungen sind die einzigen, die eine Berechtigung haben und sie müssen deswegen überall und sofort hin exportiert werden. Wenn wir jetzt dieses Prinzip der Dreiteilung Pubertät, Maturität und Senilität auf die heutigen großen Gesellschaftsbereiche anwenden, und da fange ich  einmal mit den Vereinigten Staaten von Amerika an, dann sind die Vereinigten Staaten von Amerika ein typischer Fall der Pubertät. Alles was für sie gerade wichtig ist – und die amerikanischen Wertvorstellungen sind das wichtigste auf der Welt – muss exportiert werden, wenn es unbedingt sein muss auch mit Hilfe von Bomben. Das ist ein sehr pubertäres Verhalten. Es lässt aber die Hoffnung zu, dass auch die amerikanische Gesellschaft relativ bald in den Bereich der Maturität hereinkommt und dann das ganze etwas gelassener nimmt. Wenn man jetzt das Ganze auf Europa anwendet dann ist es natürlich so, dass man sagen muss, Europa hat den Zyklus seiner Pubertät wahrscheinlich im Spätmittelalter gehabt. Nach einem relativ langen Zeitraum der Maturität befindet sich Europa heute in einem Zeitalter der Senilität. Senilität geht nach dieser Betrachtung der Gesellschaftsform mit einem gewissen Werteverfall einher. Die Ideale oder die Helden sind dann nicht mehr ein Roland, sind nicht mehr Heilige, sondern das ist dann eben das was bei Germany's Next Topmodel herauskommt. Mir scheint die vorher schon erwähnte These der Inevitability of Geography durchaus plausibel. Aber ich glaube zweifellos nicht an die Inevitability of Politics, an die Unausweichlichkeit der Politik. Deswegen muss diese Senilität nicht unbedingt sofort im Verschwinden Europas münden. Gerade in Europa haben wir gezeigt, dass wir sehr wohl Strukturen ausdenken und aufstellen können, die unglaublich nach vorne gewandt sind, die in die Zukunft hineindenken. Ich würde sagen, dass wir mit der Europäischen Union die modernste politische Struktur die es derzeit auf der Welt gibt geschaffen haben. Wir sehen das oft als innerhalb der Europäischen Union lebende Personen nicht. Man kriegt das immer erst dann vorgehalten, wenn man aus der Union herausreist, in anderen Teilen der Welt ist und sich dort mit Politikern oder mit anderen Entscheidungsträgern unterhält. Da kommt dann die Anerkennung der Europäischen Union die die Weichen weit in die Zukunft hereingestellt hat, weil eben Strukturen gefunden wurden, die dem großen Wandel – des gesellschaftlichen und staatlichen Wandels – gerecht werden. Die der Tatsache gerecht werden, dass die Dimensionen heute grösser geworden sind, dass der Handel wesentlich weiter geht, dass die Kommunikation wesentlich schneller geht, und dass damit eine Kleinstaatlichkeit keinen echten Platz mehr hat. Ich konnte im vergangenen Jahr und auch zu Beginn dieses Jahres relativ viel in Westafrika tätig sein. Da gibt es auch eine Wirtschaftsgemeinschaft, die Ecowas, die auch relativ weit fortgeschritten ist. Sie wird in Europa, außer in Frankreich, kaum wahrgenommen, weil sie keine große wirtschaftliche Auswirkung hat. Da konnte ich mich mit relativ vielen Politikern unterhalten, die auch gesagt haben, die Institutionen die ihr habt sind ganz gewaltig, weil sie in die Zukunft hereinweisen. Da ist insbesondere das Beispiel des Europäischen Gerichtshofes. Das tut einem als Europäer – wenn man hier ist und natürlich dauernd nur von der Krise von Europa und der Europäischen Union hört, und auch die Schwierigkeiten sieht, die wir hier haben – echt gut. Wir haben die richtigen Institutionen. Wenn wir sie nun mit dem richtigen Leben und dem richtigen Inhalt füllen, dann sind das Institutionen, die bei all der Krise und all dem Umbruch, den wir erleben, wirklich in die Zukunft weisen.

ICvO: In Europa nimmt immer mehr die Politikverdrossenheit zu, ganz besonders unter der jungen Generation. Wäre in diesem Fall eine direkte Bürgerbeteiligung nicht sinnvoll?

KvH: Ich weiß nicht. Wir haben vorher von Ihnen Herr Professor (Rhonheimer, Anmerkung) gerade gehört, wie die Situation in der Schweiz ist, wie die Beteiligung wesentlich stärker sein kann. Ob das jetzt zu einer größeren Passion für die Politik, auch bei der Jugend führt, da bin ich nicht völlig überzeugt. Ich beobachte das politische Geschehen ja doch schon eine ganze Weile. Man hat immer gemerkt, dass das Interesse einmal stärker und einmal schwächer geworden ist. Wir haben schon Zeiten erlebt, wo das Interesse an Politik, vor allem von der Jugend, auch schon wesentlich geringer war als es heute der Fall ist. Ich würde eher von einer Parteiverdrossenheit als einer Politikverdrossenheit sprechen. Es fehlt glaube ich nicht das Interesse daran, an den Entscheidungen für die Zukunft mitzuwirken, sondern das ist ein Desinteresse daran, sich an den eingefahrenen Strukturen, die uns die politischen Parteien vorgeben, zu beteiligen, weil eben die Möglichkeit dort wirklich Einfluss zu nehmen außerordentlich gering ist. Aber das politische Interesse an sich glaube ich ist in vielen Bereichen schon noch da und wird natürlich auch durch unsere modernen Medien unterstützt. Die Möglichkeiten der Kommunikation die wir heute haben, die Möglichkeit sich zu informieren und auch die Möglichkeit, Informationen zu transportieren sind ganz andere geworden. Wir haben heute vieles von dem gehört was in der Ukraine stattgefunden hat. Wenn man weiß, wie die Kommunikation funktioniert hat um auch große Demonstrationen organisieren zu können, dann sieht man welche unglaublich wichtige Rolle die sozialen Netzwerke gespielt haben. Wir haben in den vergangenen Tagen die Auswirkungen erlebt, die es hatte, als der Premier Erdogan in der Türkei Twitter verboten hat. Zum einen hat es überhaupt keine Auswirkung gehabt, weil die entsprechenden Netzwerke sofort auf andere Bereiche umgelegt werden konnten. Aber man hat auch gesehen, wie er die sozialen Netzwerke als politische Bedrohung empfunden hat. Das zeigt wie stark sie tatsächlich sind wenn sie existieren. Ich habe das selber auch in Ägypten, in Kairo erlebt, als es vor drei Jahren die großen Demonstrationen am Tahrir-Platz gegeben hat. Das war faszinierend zu sehen was alles über die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke organisiert wurde. Das war vor allen Dingen die junge Generation, die eben in der Lage war, richtig große Bewegungen hervorzurufen. Im Vorfeld, das kann man in dem Zusammenhang schon erwähnen, haben wir sehr große Demonstrationen erlebt die in Belgrad stattgefunden haben. Das waren auch Studentenbewegungen, auch basierend auf den sozialen Netzwerken. Das waren sozusagen die Lehrmeister für das was sich später am Tahrir-Platz abgespielt hat. Viele der Ägypter die am Tahrir-Platz die Demonstrationen organisiert haben waren vorher in Belgrad und haben gesehen, wie man friedliche Demonstrationen mit Hilfe der sozialen Medien in einem großen Maßstab durchführen kann. Also ich sehe das gar nicht so negativ. Die Möglichkeit zur Beteiligung ist da, das Interesse ist auch da. Ich habe schon schlechtere Zeiten erlebt.

ICvO: Geht es der Europäischen Jugend zu gut? Protestwellen via Facebook, Twitter & Co erreichen uns ja meistens aus Syrien, Ägypten oder der Ukraine und nicht aus Deutschland. Wie schätzen Sie die Lage ein?

KvH: Da ist der Vergleich natürlich schon schwierig, weil in den erwähnten Städten der Leidensdruck auch gewaltig viel höher ist als bei uns. Wenn wir uns heute beklagen, beklagen wir uns auf einem extrem hohen Niveau. Es geht uns im Grunde genommen wirklich ausgezeichnet, mit allen Schwierigkeiten die es gibt, keine Frage. Aber das ist natürlich. Wenn man sich anschaut, was in den erwähnten Städten, wo es zu den großen Demonstrationen gekommen ist, für ein Leidensdruck dahinter gestanden ist, dann ist das schon gewaltig.  

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